Social Media Accounts löschen… – wirklich?
CAFM-NEWS – Wir sollen unsere Social Media Accounts löschen, und zwar sofort. Das meint zumindest Jaron Lanier in seinem Buch Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts löschen musst. Musst? Das ist schon starker Tobak. Das Problem dabei: Lanier ist kein Sektierer, sondern ein Silicon Valley Urgestein und aktuell der Chefstratege von Microsoft.
Nun könnte man „Aha!“ ausrufen und die Frontlinie zwischen Facebook/Google und Microsoft ziehen. Das greift aber in die falsche Richtung, nicht nur, weil Lanier in seinem Buch aufzeigt, dass alle großen US-IT-Konzerne wie Alphabet, Facebook, Microsoft und Apple auf bestimmte Analyse-Verfahren setzen. Der Unterschied:
Google und Facebook leben – wie Uber übrigens auch – davon, ihre Nutzer zu analysieren und die gewonnenen Erkenntnisse zu monetarisieren. Und sie leben ausschließlich davon, was zu einem erheblichen Interesse an Gewinnmaximierung durch dieses eine, ausschließliche Verfahren führt, zugleich aber auch zu einer Abhängigkeit von diesem – ähnlich wie Öl-Staaten. Damit die Gewinnmaximierung der abhängigen Social-Media-Riesen klappt, muss der Nutzer manipuliert werden. Und da liegt der Hase im Pfeffer.
Zwar ist der Mensch im Prinzip gut, im Alltag reagiert er aber trotzdem lieber emotional und das vor allem auf Dinge, die negativ behaftet sind, belegt die Psychologie. Böse Gerüchte sind da noch das harmloseste. Dazu kommt: Wer sich auf Kanälen wie Facebook oder Twitter tummelt, möchte gemocht werden wie im richtigen Leben. Da aber gemocht hier geliked heißt und bei jedem Post auf’s neue geschehen muss, zeigt das Web ein erstaunlich fieses Gesicht vieler Menschen.
Hass und Vorurteile, Diffamierungen und was das Reservoir abgründigen Verhaltens noch so hergibt, wird weit mehr gepostet als im direkten Gespräch gesagt. Social Media Kanäle verleiten zu intensiver Selbstdarstellung inklusive Verlust von Anstand und Moral. Social Media beeinflussen mit Fake-News Wahlen und verleiten zum Völkermord – zu sehen in Myanmar mit der zunehmenden Verfolgung von Rohingya nach dem Start von Facebook dort, ebenso im Südsudan. Zudem posten diverse Bots als Fake-Personen Vorurteile und Verschwörungstheorien im Auftrag politisch ambitionierter Auftraggeber, wie bereits mehrfach zu sehen war.
Im Grund nichts neues, wäre da nicht der Insiderblick Laniers, der diese Ereignnisse in ein völlig neues Licht taucht:
Die Algorithmen arbeiten autark, die Portalbetreiber wissen gar nicht, was die Algorithmen tun – und es ihnen egal, solange die Kasse klingelt. Mit dieser alleinigen Prämisse steuern die Rechner Wahrnehmung in Social Media Kanälen. Lanier erläutert, wie die Algorithmen negative Effekte forcieren und zugleich jeden Nutzer isolieren – Stichwort Filter Bubble.
Lanier zeigt, wie die großen IT-Konzerne, allen voran Facebook, Google und in Teilen auch Twitter, ihre Nutzer nicht als Kunden behandeln, sondern – Stichwort Anzeigengeschäft – als Produkt für die Werbekunden.
Und er legt offen, wie die Nutzer dieser Social Media Angebote – Stichwort Nutzungsbedingungen – als kostenlose Lieferanten von Content und Know-how für die Perfektionierung von Übersetzungsprogrammen und anderem mehr ausgebeutet und in letzter Konsequenz ihrer finanziellen und sozialen Sicherheit durch eben jene beraubt werden, die durch ihre Zuarbeit reich werden.
Zugleich zeigt der IT-Fachmann auf, wie dieser Teufelskreis, der die Menschen am Endgerät zur Ware degradiert, durchbrochen werden kann. Bezahl-Content, heißt das Zauberwort, das niemand gerne hören möchte, weil sie übersehen, dass eine Geiz-ist-geil Mentalität dazu führt, dass immer weniger Geld im Umlauf ist, womit jeder weniger Geld bekommt.
Zugegeben, Laniers Sicht wirkt schon etwas extrem. Konsequent mitgedacht ist er aber nicht so weit von der möglichen Wirklichkeit in einer Hand voll Jahren entfernt. Selbst Facebook hat inzwischen anerkannt, dass das Portal Schaden anrichten kann – ob Konsequenzen folgen, ist offen. Wobei mit Blick auf das Buch die größter Hürde aber nicht sein Ansatz ist, sondern die Schreibweise Laniers.
Lanier plaudert mit dem Leser, als sei er ein 15-Jähriger. Was wohlmöglich auch die Kernzielgruppe darstellt. Interessant ist das Buch aber auch für ältere – und sei es nur, um sich zu fragen, ob und in welchem Umfang Social Media für einen persönlich, aber auch für Wohl und Wehe des eigenen Unternehmens wesentlich ist.
Denn was Lanier beschreibt, ist Realität, wenn auch unsichtbar, und wird von den Anbietern gut versteckt und stets geleugnet: Social Media benutzen ihre Nutzer. Don’t be evil ist nur ein Traum.
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Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts löschen musst. Aus dem amerikanischen Englisch von Martin Bayer und Karsten Petersen. 1. Aufl. 2018, 204 S. geb., Hoffmann und Campe, ISBN 978-3-455-00491-5; 14,00 Euro; zu finden bei Amazon
Abbildungen: Hoffmann und Campe