Digitaler Zwilling: Das DIN arbeitet mit an seiner Normierung

Der Digitale Zwilling ist weit mehr als ein BIM-Modell in 3D-Ansicht und soll normiert werden - MangKangMangMee/stock.adobe.com
Der Digitale Zwilling ist weit mehr als ein BIM-Modell in 3D-Ansicht und soll normiert werden – MangKangMangMee/stock.adobe.com

 

CAFM-NEWS – Oft wird das BIM-Modell auch als Digitaler Zwilling bezeichnet. Dabei ist der Digitale Zwilling weit mehr als das 3D-Abbild eines Gebäudes. Was genau er leistet und wie das verbindlich in Normen gefasst werden soll, beantwortet Nikita Kretschmar, Project Manager Strategic Development BIM beim DIN, in unserem Interview.

 

CAFM-NEWS: Für viele ist der Digitale Zwilling ein anderes Wort für BIM-Modells. Dem widersprechen Sie. Was ist Ihrer Ansicht nach der Unterschied zwischen BIM-Modell und Digitalem Zwilling?

Nikita Kretschmar: BIM ist vielleicht ein gut aussprechbares Akronym, aber die Gebäudeinformationsmodellierung als solche ist nicht besonders griffig. Digitaler Zwilling klingt wiederum sowohl einfach wie fortschrittlich. Es kann also schnell passieren, dass beide Begriffe vermischt oder synonym verwendet werden, wenn ein Konzept zum Beispiel aus Marketingperspektive attraktiver beschrieben werden soll.

Ein Digitaler Zwilling ist jedoch sowohl außerhalb der Domäne des digitalen Planen und Bauens gebräuchlich und geht auch über ein BIM Modell hinaus. Ähnlich wie auch ein BIM Modell in seinem Umfang über ein digitales geometrisches Modell hinausgeht und historisch gesehen auch nicht immer scharf von diesem getrennt wurde.

Bei einem vollständigen Digitalen Zwilling eines realen Objekts erhalte ich in meinem Modell dessen Zustandsinformationen in Echtzeit und habe gleichzeitig die Möglichkeit das reale Objekt über das Modell zu manipulieren oder zu steuern. Diese Wechselwirkung kennen die meisten bereits aus dem Internet of Things Bereich, wie beispielsweise bei intelligenten Haushaltgeräten, deren Status ich per Smartphone abrufen und steuern kann.

Um es simpel ausdrücken:

  • geometrisches Modell + Bauteilinformation = BIM
  • BIM + IoT = Digitaler Zwilling

Aber so simpel ist es gegenwärtig nicht.

 

CAFM-NEWS: Wenn wir vom Digitalen Zwilling sprechen, meint er dann das einzelne Gebäude oder kann es auch die Maschine im Gebäude oder anders herum ein Quartier oder ein ganzes Stadtviertel sein, das hier quasi belebt betrachtet werden soll?

Kretschmar: Bei dem Digitalen Zwilling handelt es sich um ein Konzept, welches sich nicht nur auf einzelne Objekte sondern auch Systeme anwenden lässt. Gerade für den Betrieb von Systemen wie zusammenhängenden Anlagen sind die Möglichkeiten der Echtzeitüberwachung und des bedarfsweisen direkten Eingriffs starke Argumente die Nutzung eines Digitalen Zwillings.

Ein solches System könnte aber auch ein ganzer Stadtteil oder eine Kommune sein. Tatsächlich gibt es für diese Dimensionen bereits national Projekte wie den Connected Urban Twin (CUT). Dieses Projekt startete 2021 mit drei Partnerstädten und dem Ziel digitale Werkzeuge für eine integrierte Stadtentwicklung zu schaffen.

Aktuell geht es hier vor allem um die Simulation von verschiedenen planerischen Maßnahmen in einem detaillierten Abbild der Stadt, auch bereits auf Basis von Echtzeitdaten. Im Rahmen dieses Projekt entsteht auch bei uns mit der DIN SPEC 91607 „Digitaler Zwilling für Städte und Kommunen“ ein Leitfaden, der die gewonnen Erkenntnisse für zukünftige Anwender wie interessierte Kommunen festhalten soll.

 

CAFM-NEWS: Sie sind beim DIN tätig und im Austausch mit anderen Normungsgremien zur Normierung des Digitalen Zwillings. Wer ist denn aktuell alles im Gespräch miteinander?

Kretschmar: Der drängende Klärungs- und Standardisierungsbedarf wurde auf europäischer Ebene bereits erkannt und führte erst kürzlich zur Gründung des neuen nationalen Arbeitsausschusses „Digitale Zwillinge in der bebauten Umwelt“ bei DIN – als Reaktion auf die Konstituierung des entsprechenden europäischen Gremiums.

Der Aufruf zur Mitarbeit wurde zuvor breit gestreut, da sich hier eine stark themenübergreifende Ausrichtung abzeichnet. Im Bereich Bauwesen sind bereits erfolgte und noch laufende Arbeiten im Bereich Normung und Standardisierung aus den Bereichen TGA und auch Gebäudeautomation besonders interessant.

Auch Bereiche wie die Geoinformation im Kontext der baulichen Umwelt spielen eine buchstäblich tragende Rolle. Darüber hinaus beschäftigen sich zurzeit viele Akteure aus Themenkomplexen wie Industrie 4.0 und Smart Cities mit dem Konzept des Digitalen Zwillings. An der Normung mitwirken kann jeder und gerade bei einem solchen Querschnittsdisziplin ist das mehr als förderlich.

 

CAFM-NEWS: Ist das die übereinstimmende Meinung der aktuell an der Diskussion beteiligten?

Kretschmar: Eine einheitliche Sicht oder Herangehensweise für den Digitalen Zwilling gibt es derzeit noch nicht. Im Gegenteil, die Vorstellungen gehen sogar sehr weit auseinander. Erst kürzlich wurde mir von einem Hersteller von Bauprodukten das eigene Konzept des Digitalen Zwillings vorgestellt, bei dem es sich um das Abbild eines Produkts in Form eines digitalen Datenblatts handelte.

Je nach der vorgesehenen Anwendung ist auch nicht immer der volle Funktionsumfang eines Digitalen Zwillings notwendig, gerade wenn es z.B. um Simulationen und Abschätzungen geht oder das betrachtete System über Sensorik aber keine Aktorik verfügt. Aktuell wird immer häufiger über Abstufungen diskutiert. Hierbei wäre zum Beispiel die zuletzt erwähnte Variante dann eher ein Digitaler Schatten. Hier geht es nicht nur um Wortklauberei, sondern um die Bildung einer einheitlichen Sprache, die einheitliche Technologien erst möglich macht.

 

CAFM-NEWS: Was genau soll im Kontext des Digitalen Zwillings normiert werden? Lediglich die Datenformate oder auch Aspekte wie ein mögliches Vorgehen beim Austausch von Daten, die Darstellung von Simulationen oder die Einbindung von Services?

Kretschmar: Im Bereich BIM und Digitaler Zwilling stehen wir, was die Standardisierung betrifft, noch am Anfang. Die terminologische Vereinheitlichung ist die Basis auf der dann Anforderungen für die jeweils sich ergebenden Anwendungsfälle definiert werden müssen. Je umfangreicher die Einbindung von Bauwerksdaten und je größer das betrachtete System ausfällt, desto mehr Schnittstellen treten auf den Plan, über die einwandfrei miteinander kommuniziert werden muss. Auch gebäudenahe Dienstleistungen werden hierbei sicherlich eine Rolle spielen. Ein weiterer Aspekt, der heutzutage nicht mehr wegzudenken ist, ist die Betrachtung der Nachhaltigkeit und der Einbindung relevanter Daten und Konzepte.

 

CAFM-NEWS: Welche Vorteile böte die Normierung?

Kretschmar: Es ist kein Geheimnis, dass der größte Teil aller für ein Gebäude aufzuwendenden Kosten (ca. 85%) im Betrieb entstehen. Diesen mithilfe digitaler Werkzeuge zu optimieren bietet also nicht nur einen großen wirtschaftlichen Vorteil, auch im Sinne der Nachhaltigkeit kann gerade an diesem Punkt im Gebäudelebenszyklus einiges durch intelligenten Betrieb gespart werden.

Der Digitale Zwilling in seinem vollen Umfang bietet sich bei dieser Anwendung natürlich besonders gut an. Um jedoch den Zugang zu solch einem Werkzeug für eine breite Zahl an Interessenten zu ermöglichen, ist es wenig zuträglich, wenn jeder seine eigenen Strukturen schafft und das gerade im Hinblick auf den Übergang von Errichtung in Betrieb. Auch abweichende Vorstellungen betreffend des Informationsgehalts und dessen Bereitstellung haben großes Konfliktpotential und können durch ein einheitliches Verständnis vermieden werden.

 

CAFM-NEWS: Wer würde primär und wer sekundär von der Normierung profitieren? Und in welcher Weise?

Kretschmar: Primär profitieren wohl vor allem die am Bau Beteiligten. Durch die Nutzung von Digitalen Zwillingen können Kosten bereits in der Planung gespart werden, indem ein effizienter Betrieb simuliert und ein solcher sukzessive ermöglicht werden kann. In der Betriebsphase verfügt man wiederum über ein umfassendes Werkzeug um Veränderungen in Bedarf und Nutzen zu erkennen und wenn notwendig zu reagieren.

Sekundär, allerdings nicht weniger wichtig, sehe ich die Entwicklung unserer Städte und Kommunen im Hinblick auf die Anpassungen, die in Zukunft notwendig sein werden um diese Infrastrukturen nicht nur effizient und nachhaltig, sondern auch lebenswert gestalten zu können.

 

CAFM-NEWS: Gibt es schon Beispiele, die Ihrer Vorstellung eines genormten Digitalen Zwillings repräsentieren?

Kretschmar: Ein guter Schritt in diese Richtung wäre das zu Beginn des Jahres eröffnete Weiterbildungszentrum „Viega World“ des Herstellers von Sanitär- und Heizungstechnik. Das Bauwerk wurde ganzheitlich und fachübergreifend mit besonderem Augenmerk auf die TGA und mithilfe eines Digitalen Zwillings geplant und konstruiert. Energieeffizienz und Nachhaltigkeit konnten bereits frühzeitig über den gesamten Lebenszyklus vom Bau über den Betriebsprozess bis hin zur Entsorgung vorausgeplant werden. Daraus ergibt sich eine sehr gute Ökobilanz, die mit herkömmlichen Methoden wahrscheinlich nicht umsetzbar wäre.

 

CAFM-NEWS: Vielen Dank für das informative Gespräch.



Abbildungen: MangKangMangMee/stock.adobe.com



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